Wie hat sich die Versorgung psychisch Kranker entwickelt?

Immer mehr Daten bestätigen: Depressionen und andere psychische Erkrankungen haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie verstärkt bzw. treten häufiger auf. Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Neurologie, teilt hier seine Erfahrungen zur Versorgung dieser Patienten während der Krise.

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Depressionen: Schwere Symptombelastungen haben sich verfünffacht

Die erste Analyse einer noch laufenden Online-Befragung von rund 2.000 Teilnehmern, die im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts durchgeführt wird, zeigt: Im Vergleich zu einer Normierungsstichprobe haben sich bei Depressivität schwere Symptombelastungen verfünffacht. Ein ähnlicher Trend lässt sich auch bei anderen psychischen Störungen erkennen.1

Zu viele psychisch Kranke auf sich allein gestellt?

Eine besondere Herausforderung besteht momentan in der Aufrechterhaltung der Versorgung psychisch Kranker – sowohl neu erkrankter als auch bereits bekannter Patienten. Wir haben mit Prof. Hans-Peter Volz über seine Erfahrungen seit dem Beginn der Corona-Pandemie gesprochen.

Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor Schloss Werneck

„Die Corona-Pandemie hat zu einer deutlichen Unterversorgung bei Patienten mit psychischen Störungen geführt.“
Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor Schloss Werneck

Wie sehen Sie die Entwicklung psychischer Erkrankungen seit dem Beginn der Corona-Pandemie?

„Durch die Corona-Pandemie ist es zu einer erheblichen psychischen Belastung gekommen. Dabei mussten die ambulanten und stationären Versorgungsmöglichkeiten zum Teil drastisch reduziert werden und sind auch aktuell noch nicht auf dem Stand vor dem Ausbruch der Pandemie in Deutschland. Dies hat zu einer deutlichen Unterversorgung geführt, auch bei schweren psychiatrischen Störungen. Wir sind gerade dabei, nun mit allem Nachdruck wieder gute Versorgungsstrukturen zu etablieren.

Bei einem Teil der betroffenen Patienten hat dies meiner Einschätzung nach zu einer Symptomzunahme geführt, v. a. bei depressiven Erkrankungsbildern. Dies ist teilweise auch durch die erzwungene soziale Isolation begünstigt.“

Wie behandeln Sie Patienten, bei denen sich depressive Symptome verstärkt haben oder neu aufgetreten sind?

„Hier gibt es prinzipiell keine anderen Behandlungswege als sonst auch. Vielmehr versuchen wir eben die standardmäßig vorhandenen Behandlungsoptionen möglichst intensiv anzuwenden.“

Wie wird sich die Lage Ihrer Einschätzung nach zukünftig entwickeln?

„Dies kommt v. a. auf die Entwicklung der Pandemie an und ab wann keine Restriktionen mehr bei der ambulanten und stationären Behandlung zu berücksichtigen sind. Aktuell sind diese ja immer noch gegeben. Falls alle Restriktionen gecancelt werden sollten, ist innerhalb von wenigen Tagen damit zu rechnen, dass die Behandlungsoptionen, wie sie „vor Corona“ gegeben waren, wieder zur Verfügung stehen.“

Ende der Quarantäne bedeutet nicht unbedingt ein Ende der Belastung

Selbst wenn im Alltag und bei der Patientenversorgung langsam wieder Normalität einkehrt, bedeutet dies nicht unbedingt ein Ende der psychischen Belastungen. Daten, die im Rahmen der SARS-Pandemie 2002 – 2003 und den MERS-CoV-Ausbrüchen 2012 und 2016 in den betroffenen Regionen gesammelt wurden zeigen, dass die Auswirkungen auch lange danach spürbar sind: Noch 7 Monate nach den damals verordneten Quarantänemaßnahmen berichteten 26,6 % der Befragten über relevante Symptome psychischer Störungen. Zwischen dem Auftreten depressiver Symptome und dem Erleben einer Quarantänesituation fand man selbst 3 Jahre nach Beendigung der Maßnahmen noch eine starke Assoziation.2,3

Wie Sie Ihre Patienten jetzt schützen können

Man hat aus diesen früheren Ausbrüchen allerdings auch gelernt, wie man die Bevölkerung vor Langzeitfolgen schützen kann. Entscheidend ist hier vor allem die Aufklärung: Dass Ausnahmesituationen zu psychischen Belastungen führen können, ist vollkommen normal.3

Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass jeder Betroffene gleich eine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung benötigt. Schon entsprechende Informationen und niederschwellige Angebote wie Apps zur Stressreduktion können für Betroffene hilfreich sein.2,3

Auf ihrer Website gibt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) Empfehlungen für wissenschaftlich fundierte und kostenlose Online-Programme.

Damit Patienten, bei denen eine intensivere medizinische Betreuung wichtig ist, weiterhin gut betreut werden können, gibt es seit April 2020 neue Regeln für die Abrechnung telefonischer Konsultationen. Auch hierfür hat die DGPPN eine Übersicht zusammengestellt.

Therapie patientenindividuell gestalten

In jedem Fall ist es in dieser Phase besonders wichtig, Patienten mit einer bestehenden Depression oder sich neu entwickelnden Symptomen genau zu beobachten und die Therapie ggfls. anzupassen bzw. neu einzuleiten. Diese sollte immer patientenindividuell und gemeinsam mit den Patienten gestaltet werden. Fällt die Entscheidung für eine medikamentöse Therapie, ist es sinnvoll, auch die Behandlungsoption mit hochdosiertem Johanniskraut-Extrakt bei leichten bis mittelschweren Depressionen anzusprechen – einigen Patienten kann der Einstieg in die medikamentöse Therapie damit leichter fallen.

Quellen:

  1. PFH Private Hochschule Göttingen. Studie weist erhebliche Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden durch Beschränkungen während der COVID-19-Pandemie nach. Presseinformation vom 2. Juni 2020. https://presse.pfh.de/pressemitteilungen/1072-neues-internationales-forschungsprojekt-an-der-pfh.html
  2. Röhr S et al. Psychosoziale Folgen von Quarantänemaßnahmen bei schwerwiegenden Coronavirus-Ausbrüchen: ein Rapid Review. Paychiatr Prax 2020;47(04):179-189.
  3. Lehren aus MERS und SARS-Ausbrüchen: Diese psychischen Beschwerden treten noch 7 Monate nach einer Quarantäne auf. Medscape 2020. Unter: https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4908888#vp_1 (abgerufen am 29.06.2020).

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