Wie finde ich den passenden Wirkstoff?

Bei der Bandbreite der verfügbaren antidepressiven Wirkstoffe kann man im Praxisalltag schnell den Überblick verlieren. Der Psychiater Prof. Dr. med. Hans-Peter Volz gibt in einer CME-zertifizierten Fortbildung Orientierung. Seine wichtigsten Tipps, wie Sie bei der Wirkstoffauswahl zielgerichtet vorgehen, finden Sie hier zusammengefasst.

Alle zugelassenen Wirkstoffe sind wirksamer als Placebo

Entgegen immer wieder laut werdender Stimmen, Antidepressiva seien nur bessere Placebo, ordnet Prof. Volz ganz klar ein: Alle zugelassenen Wirkstoffe sind wirksamer als Placebo. Allerdings gibt es nur geringe Wirksamkeitsunterschiede zwischen den verschiedenen Antidepressiva, so das Ergebnis einer Meta-Analyse mit 522 eingeschlossenen Studien und 21 untersuchten Wirkstoffen. Am besten hat das uralte Amitriptylin abgeschnitten, welches Prof. Volz jedoch aufgrund des Nebenwirkungsprofils nicht empfiehlt, v.a. nicht in höheren Dosierungen. Auf Platz 2 liegt Mirtazapin, gefolgt von Duloxetin, Venlafaxin und den SSRI.“1,2

Johanniskraut war in dieser Studie nicht enthalten, wurde aber in einer Meta-Analyse des Cochrane-Netzwerks untersucht. Im Vergleich zu Placebo sprachen signifikant mehr Patientinnen und Patienten darauf an. Signifikante Wirksamkeitsunterschiede zu Synthetika gab es nicht.3 „Hinsichtlich der Wirksamkeit würde ich Johanniskraut – verglichen mit anderen Antidepressiva –im Mittelfeld einordnen.“

Sedierend oder nicht-sedierend, das ist hier die Frage

Da es kaum Wirksamkeitsunterschiede zwischen den Antidepressiva gibt, ist eine entscheidende Frage bei der Wirkstoffauswahl: Welche Nebenwirkungen sind für meine Patientin oder meinen Patienten tolerabel oder dem Behandlungsziel sogar zuträglich?

Laut Prof. Volz sollte man hinsichtlich des Nebenwirkungsprofils zunächst entscheiden, ob ein sedierendes oder ein nicht-sedierendes Antidepressivum angezeigt ist. Je nachdem empfiehlt er Escitalopram als nicht-sedierendes Antidepressivum und Mirtazapin als sedierenden Wirkstoff.1

Während man sich die sedierenden Eigenschaften für die Therapie zu Nutze machen kann, sind jedoch auch andere, spezifische Nebenwirkungen zu beachten. Typisch für SSRI seien u. a. gastrointestinale Probleme, leichte Unruhe und sexuelle Dysfunktion. Mirtazapin könne zur Gewichtszunahme oder Ödemen führen. Bei älteren Personen, die Mirtazapin einnehmen, sei laut Prof. Volz auch auf Restless Legs zu achten: „Leichte Übelkeit oder Unruhe unter SSRI verschwinden meist nach ein paar Tagen wieder, aber an Restless Legs kann sich keiner gewöhnen, insbesondere wenn man depressionsbedingt ohnehin Probleme mit dem Schlaf hat. Bei diesen Patientinnen und Patienten müssen Sie die Therapie umstellen.“1

Tab.1 Vereinfachte Übersicht über Wirkstoffklassen, Transmittersysteme und einige herausgegriffene damit assoziierte Nebenwirkungen1

Besonders von Personen, die empfindlich auf Nebenwirkungen reagieren oder die Psychopharmaka gegenüber skeptisch eingestellt sind, bekomme man in der Praxis häufig die Frage nach dem verträglichsten Antidepressivum gestellt, erläutert Prof. Volz weiter. Diesen Patientinnen und Patienten empfiehlt er Agomelatin* oder Johanniskraut-Extrakt. Bei beiden Wirkstoffen lägen die Nebenwirkungen auf Placebo-Niveau.1 Für Johanniskraut wurde in einer Meta-Analyse gezeigt, dass es 60 % weniger Therapieabbrüche aufgrund von Nebenwirkungen gab im Vergleich zu synthetischen Antidepressiva.3

*Hinweis: Bei der Einnahme von Agomelatin sollten jedoch Transaminasekontrollen vor und während der Behandlung durchgeführt werden.4

Interaktionen: Komplex, aber beherrschbar

Wenn Betroffene aufgrund anderer Erkrankungen Medikamente einnehmen, wird die Wirkstoffwahl schon etwas komplexer. Was man hierzu wissen muss: Antidepressiva werden über unterschiedliche Cytochrom-P450-Isoenzyme im Dünndarm und in der Leber verstoffwechselt. Die meisten Wirkstoffe hemmen ein oder mehrere CYP-Enzyme und können so zu einem Plasmaspiegelanstieg anderer Wirkstoffe führen. Johanniskraut-Extrakt ist ein Induktor von CYP3A4 sowie CYP2C9, CYP2C19 und p-Glykoprotein und kann den Abbau anderer Substanzen dadurch beschleunigen.1

Praxistipp von Prof. Volz:

„Nimmt jemand sehr viele Medikamente ein oder hat Probleme mit der Leber, dann kann Milnacipran eine gute Option sein.“1

Quellen:

  1. Volz HP. Depression – Diagnose und Therapie. Medical Tribune CME Fortbildung. Unter: https://medical-tribune.de/ecme-depression

  2. Cipriani A et al. Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet 2018;391(10128):1357-1366.

  3. Linde K et al. St John's wort for major depression. Cochrane Database Syst Rev. 2008(4):CD000448.

  4. Fachinformation Agomelatin Heumann 25 mg Filmtabletten. Stand 02/2022.

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