Nie wieder Sex? Wenn Pillen auf die Potenz gehen 

Sexuelle Funktionsstörungen treten unter der Behandlung mit SSRI und SNRI sehr häufig auf und können auch nach Absetzen der Medikation fortbestehen. Seit 2006 haben sich Fallberichte dazu gehäuft, doch erst 2019 hat die EMA eine Warnhinweispflicht angeordnet1 – für viele Betroffene zu spät. Über ein Tabuthema.
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Männer und Frauen sind von sexuellen Funktionsstörungen betroffen

Bei nahezu allen Patienten kommt es innerhalb von 30 Minuten nach der Einnahme eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers (SSRI) zu einer reduzierten genitalen Sensibilität.2 Diese Nebenwirkung verschwindet in den meisten Fällen nach dem Absetzen der Therapie wieder. Bei einigen Patienten bleibt sie jedoch bestehen, auch noch Jahre nach der Behandlung.2 Der genaue Mechanismus dieser sogenannten post-SSRI sexuellen Dysfunktion (PSSD) bleibt noch zu klären. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Erhöhung der serotonergen Aktivität eine wichtige Rolle spielt. Denn eine Beeinträchtigung der sexuellen Funktion konnte vor allem unter der Therapie mit den beiden serotonergen Wirkstoffgruppen SSRI und SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) beobachtet werden.3 

Die bislang größte Studie, die 300 Fallberichte unter die Lupe nahm, beschreibt erektile Dysfunktion, Libidoverlust, genitale Anästhesie und lustlosen Orgasmus als die häufigsten Symptome der PSSD bei Männern; Frauen geben neben Libidoverlust und genitaler Anästhesie auch Schwierigkeiten, zum Orgasmus zu kommen, an. Emotionales Abstumpfen, frühzeitige oder reduzierte Ejakulation, vaginale Trockenheit und generelle Taubheitsgefühle der Haut sowie eine reduzierte Empfindlichkeit der Brustwarzen wurden ebenfalls beschrieben.4 

    Sexuelle Funktionsstörungen sind noch häufig ein Tabuthema und werden daher von Betroffenen selbst häufig nicht proaktiv angesprochen. Eine Erhebung unter 1.400 Patienten unter SSRI-Behandlung zeigt, dass nur 20 % eine sexuelle Funktionsstörung von sich aus zur Sprache brachten. Wurde jedoch ein spezieller Fragebogen hinzugezogen, stieg der Anteil der Betroffenen auf 60 % an.5

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    Eine detaillierte Erfassung der Sexualität des Patienten (Häufigkeit, Zufriedenheit, Stellenwert) vor der Einnahme des Antidepressivums sowie eine gezielte Befragung zu Veränderungen unter der Therapie sollte unbedingt Teil der Behandlung sein.6 Spezielle Fragebögen, wie beispielsweise mit der Arizona Sexual Experience Scale (ASEX), können unterstützend hinzugezogen werden.3

    PSSD schon bei Neueinstellung auf dem Schirm haben

    Die wohl naheliegendste Strategie, eine PSSD zu vermeiden, ist die initiale Einstellung auf Antidepressiva mit einem niedrigeren oder keinem Risiko für das Auftreten einer sexuellen Dysfunktion. Optionen sind z. B. Mirtazapin, Bupropion5 oder hochdosierter Johanniskraut-Extrakt. Die Behandlung mit dem Phytotherapeutikum wurde bislang nicht mit einer sexuellen Funktionsstörung in Zusammenhang gebracht.

    Hochdosierter Johanniskraut-Extrakt (Laif®900) kann eine Option sein für Patienten,

    • die an mittelschweren Depressionen erkrankt sind,
    • die Bedenken hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen wie sexueller Funktionsstörung, Sedierung oder Gewichtszunahme äußern,
    • die einem Phytopharmakon eher aufgeschlossen sind als einem chemisch-synthetischen Antidepressivum

    Grundsätzlich kommt auch der Wechsel auf eine andere Wirkstoffklasse infrage, sollten Symptome einer sexuellen Funktionsstörung während der Behandlung mit SSRI und SNRI auftreten.6 Jeder Wechsel muss jedoch immer sorgfältig geprüft werden. Ein Sicherheitsabstand zur abgesetzten Substanz muss beachtet, ungeeignete Kombinationen identifiziert und die depressive Vorgeschichte hinterfragt werden.9 So ist Johanniskraut beispielsweise weniger geeignet für Patienten, die in der Vergangenheit bereits eine Kombinationstherapie erhalten haben oder einem pflanzlichen Antidepressivum skeptisch gegenüberstehen. Im Interview ordnet der Psychiater Prof. Jens Kuhn das Potenzial und die Grenzen von hochdosiertem Johanniskraut-Extrakt ein.

    Quellen:

    1. EMA: PRAC recommendations on signals: 11. Juni 2019; 1.3. Online erhältlich unter https://www.ema.europa.eu/en/documents/prac-recommendation/prac-recommendations-signals-adopted-13-16-may-2019-prac-meeting_en.pdf (zuletzt aufgerufen am 19.06.2019).

    2. Healy D. Post-SSRI sexual dysfunction & other enduring sexual dysfunctions. Epidemiol Psychiatr Sci 2020;29:e55:1-2.

    3. Wenzel-Seifert K, et al. Sexuelle Funktionsstörungen unter antidepressiver Pharmakotherapie. Psychopharmakotherapie 2015;22(4):205-11. 

    4. Healy D et al. Enduring sexual dysfunction after treatment with antidepressants, 5α-reductase inhibitors and isotretinoin: 300 cases. Int J Risk Saf Med. 2018;29(3-4):125-134.

    5. Simm M. Antidepressiva: Nebenwirkungsprofil individuell beachten. Dtsch Arztebl 2009;106(9):A-414.

    6. Montejo AL et al. Management Strategies for Antidepressant-Related Sexual Dysfunction: A Clinical Approach. J Clin Med 2019;8(10):1640.

    7. Fachinformation Laif®900, 9/2020

    8. Kresimon J et al. Versorgung von Patienten mit mittelschwerer Depression unter Therapie mit Hypericum-Extrakt STW3-VI im Vergleich zu selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) im Praxisalltag. Gesundh ökon Qual manag, 2012; 17: 198-206.

    9. S3-Leitlinie und Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Langfassung, 2. Auflage, November 2015, Version 5; www.leitlinien.de/nvl/depression

    Bildquelle: ©gettyimages/ Mukhina1