Lieber depressiv als dick?

Eine Gewichtszunahme unter Antidepressiva kann mitunter so schwer wiegen, dass Betroffene die Therapie eigenmächtig abbrechen und damit den Behandlungserfolg gefährden. Wirkstoffe & Mechanismen im Überblick.
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Die größten Dickmacher unter den Antidepressiva

Trizyklika wie Amitriptylin und Tetrazyklika wie Mirtazapin scheinen eine besonders hohe Gewichtszunahme zu begünstigen. Es konnten Gewichtserhöhungen von meist 3–4 kg innerhalb von 6–12 Monaten nach Therapiebeginn beobachtet werden. Dahingegen führen Bupropion und Fluvoxamin eher zu einer Gewichtsabnahme. Wirkstoffe wie Sertralin und Duloxetin haben dagegen eher einen geringen Einfluss auf das Gewicht.1 Eine „gewichtsneutrale“ Alternative kann neben Fluoxetin auch Johanniskraut-Extrakt sein, der bis hin zu mittelschweren Depressionen verordnet werden kann.2
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 Kein Einfluss bekanntGeringer EinflussGewichtserhöhendGewichtssenkend
AntidepressivaFluoxetin, JohanniskrautDuloxetin, Escitalopram, Paroxetin, Sertralin, Tranylcypromin, VenlafaxinAmitriptylin, Citalopram, Doxepin, Imipramin, Maprotilin, Mirtazapin, NortriptylinBupropion, Fluvoxamin

Tabelle 1: Auswirkungen von Antidepressiva auf das Gewicht (modifiziert nach [1,2])

Eine groß angelegte Kohortenstudie zeigt, dass sich SSRI insbesondere bei längerer Einnahme auf das Körpergewicht auswirken. Laut dieser Studie trat die größte Gewichtszunahme zwischen dem 2. und 3. Jahr der Einnahme auf; im 2. Jahr der Behandlung war das Risiko einer ≥5 %igen Gewichtszunahme um 46,3 % höher als in einer Vergleichsgruppe der Allgemeinbevölkerung. In die Untersuchung wurden alle Patienten aufgenommen, denen während des Untersuchungszeitraums ein Antidepressivum verordnet wurde. Die Antidepressiva wurden unterteilt in trizyklische und verwandte Antidepressiva (TCAs), Monoaminoxidase-Hemmer (MAOIs), selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), Serotonin-Noradrenalin (Noradrenalin)-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs) und andere Antidepressiva.3

Mehrere Theorien zur Gewichtszunahme

Laut einer Theorie nimmt die Medikation direkten Einfluss auf die zelluläre Lipogenese und auf das Hungergefühl.4 Eine weitere Theorie legt nahe, dass wegen der Depression die Nahrungszufuhr reduziert gewesen sein könnte, da weder Lust noch Antrieb zum Essen aufgebracht werden konnten. Nach Ansprechen der Therapie kommt die Lust zu essen zurück und damit auch die Gewichtszunahme.3,5 Eine besondere Rolle scheint aber vor allem das serotonerge und das histaminerge System einzunehmen. So korreliert die appetitanregende Wirkung der Medikation mit ihrer in vitro gemessenen Affinität zu den 5-HT2C-Rezeptoren. Noch bedeutender ist die Affinität zum H1-Rezeptor.1,5 Darunter fallen besonders trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva, wie Doxepin, Trimipramin, Mirtazapin oder Amitriptylin(-oxid) sowie SARI (Serotonin-Antagonist-und-Wiederaufnahmehemmer), z. B. Trazodon.6

    Rezeptortyp Nebenwirkungen bei Rezeptorantagonismus
    Muskarinische Acetylcholinrezeptoren Akkommodationsstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation, Sinustachykardie, Miktionsstörungen, Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Delir
    H1-Rezeptoren Müdigkeit, Sedierung, Gewichtszunahme, Verwirrtheit
    5-HT2-Rezeptoren Gewichtszunahme, Sedierung
    DA-Rezeptoren Prolaktinanstieg, Libidoverlust, EPS
    α1-adrenerge Rezeptoren Orthostatische Hypotonie, Schwindel, Müdigkeit, reflektorische Tachykardie

    H Histamin, 5-HT Serotonin, DA Dopamin, EPS extrapyramidalmotorische Störungen

    Wichtiges für die Praxis auf einen Blick:

    • Monitoring: Unter einer antidepressiven Therapie sollte eine regelmäßige Gewichtskontrolle erfolgen.6
    • Gewichtszunahme begünstigende Faktoren: niedriger/normaler BMI zu Therapiebeginn, eine schwere Depression und das Vorhandensein psychotischer Symptome neben der Depression. Zudem deutet eine frühe Gewichtszunahme zu Therapiebeginn darauf hin, dass diese auch weiterhin bestehen bleibt. Bleiben die ersten Wochen ohne Gewichtszunahme, gilt das Risiko auch perspektivisch als gering.7
    • Nicht-medikamentöse Optionen der Gewichtskontrolle: möglicher Nutzen durch verhaltenstherapeutische und diätetische Maßnahmen.8,9

    Quellen:

    1. Schuster N. Arzneimittel und Gewicht. Durch dick und dünn. PZ-Pharmazeutische Zeitung; Die Zeitschrift der deutschen Apotheker, 12.09.2019. unter: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/durch-dick-und-duenn/ (abgerufen am 4.06.2021)

    2. Fachinformation Laif® 900, Stand September 2020.

    3. Gafoor R et al. Antidepressant utilisation and incidence of weight gain during 10 years' follow-up: population based cohort study. BMJ. 2018 May 23;361:k1951. doi: 10.1136/bmj.k1951.

    4. Ageu LŞ et al. Modern molecular study of weight gain related to antidepressant treatment: clinical implications of the pharmacogenetic testing. Rom J Morphol Embryol. 2018;59(1):165-173.

    5. Bruhn C. Wenn Medikamente dick machen. DAZ 30/2015. Unter: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2015/daz-30-2015/wenn-medikamente-dick-machen (abgerufen am 02.08.2021.

    6. Regen F, Benkert O. „Antidepressiva“. In Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, herausgegeben von Otto Benkert und Hanns Hippius, 1–186. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, 2021. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61753-3_1.

    7. Kloiber S et al. Clinical risk factors for weight gain during psychopharmacologic treatment of depression: results from 2 large German observational studies. J Clin Psychiatry. 2015 Jun;76(6):e802-8. doi: 10.4088/JCP.14m09212.

    8. Green CA et al. The STRIDE weight loss and lifestyle intervention for individuals taking antipsychotic medications: a randomized trial. Am J Psychiatry. 2015 Jan;172(1):71-81. doi: 10.1176/appi.ajp.2014.14020173.

    9. Daumit GL et al. A Behavioral Weight-Loss Intervention in Persons with Serious Mental Illness New England Journal of Medicine 368, Nr. 17 (21. März 2013): 1594–1602. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1214530.

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