Metaanalyse: Sexuelle Dysfunktion unter Antidepressiva!

Sexuelle Störungen können bei einer Depression nicht nur als Symptom auftreten, sondern auch als Nebenwirkung bestimmter antidepressiver Wirkstoffe.1 Doch was tun, wenn die sexuelle Dysfunktion auch nach Absetzen des Antidepressivums anhält? Und wie verhindern, dass Patientinnen und Patienten bei Flaute im Bett die Medikation selbst absetzen?

Tabu-Thema sexuelle Funktionsstörung: Let’s talk about sex!

Sexuelle Funktionsstörungen wie Libido-, Erregungs- und Orgasmusstörungen oder schmerzassoziierte Störungen (z. B. Dyspareunie und Vaginismus) gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen von Antidepressiva.1 

Für Therapieerfolg und Compliance sind sexuelle Funktionsstörungen von großer Relevanz.1 Denn nicht selten ist die Flaute im Bett für die Betroffenen der Grund, die Behandlung mit Antidepressiva zu beenden.1 Doch nur wenige Patientinnen und Patienten sprechen das schambesetzte Thema von sich aus an:1,2 

  • Eine Erhebung unter 1.400 Teilnehmenden unter SSRI-Behandlung zeigte, dass nur 20 % eine sexuelle Funktionsstörung von sich aus ansprachen.
  • Wurde hingegen ein Fragebogen zur Erfassung hinzugezogen, verdreifachte sich der Anteil auf 60 %.2

Mögliche Fragenbögen sind u. a.: „Essener Fragebogen zu Sexualstörungen“1 oder Arizona Sexual Experience Scale (ASEX).

Es gibt keine offiziellen Zahlen zu sexuellen Funktionsstörungen unter der SSRI-Einnahme.1 Mit zunehmendem Wissen über den Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva und derer möglichen sexuellen Nebenwirkungen veränderten sich jedoch in Studien die Rate der beschriebenen sexuellen Nebenwirkungen.1 Die Nationale Versorgungsleitlinie zur unipolaren Depression rät daher beim Monitoring gezielt nach sexueller Dysfunktion zu fragen, sowie zur Aufklärung darüber.3

Sexuelle Dysfunktion häufig unter SSRI, SNRI & TZA

Sexuelle Funktionsstörungen treten am häufigsten auf unter:1,4 

  • klassischen, trizyklischen Antidepressiva (TZA),
  • irreversiblen MAO-Hemmern,
  • selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI, SNRI) bzw. Medikamenten mit ausgeprägter Serotoninwiederaufnahmehemmung (Venlafaxin)

Metaanalyse: Diese SSRI können sexuelle Dysfunktion auslösen

Doch nicht bei allen SSRI ist mit sexueller Dysfunktion (SD) als Nebenwirkung zu rechnen. Eine Metaanalyse von Serretti und Chiesa zeigt eine signifikant höhere Rate an spezifischen behandlungsbedingten SD und sexuellen Funktionsstörungen vs. Placebo für folgende Antidepressiva (Abb.1):5

  • Sertralin, Venlafaxin, Citalopram, Paroxetin, Fluoxetin, Imipramin, Phenelzin, Duloxetin, Escitalopram und Fluvoxamin.
  • Für Agomelatin, Amineptin, Bupropion, Moclobemid, Mirtazapin und Nefazodon konnte hingegen kein signifikanter Unterschied für das Auftreten von SD vs. Placebo festgestellt werden.

Abb.1: Antidepressiva, die sexuelle Dysfunktion verursachen.

Sexuelle Funktionsstörungen: So können Sie intervenieren

Verbessern sich sexuelle Beschwerden nicht im Laufe der Behandlung, kann Folgendes in Erwägung gezogen werden:1

  • Dosisreduktion des Antidepressivums, sofern eine stabile antidepressive Wirkung besteht (sexuelle Dysfunktion ist dosisabhängig)
  • Drug Holiday: Medikamentenpause (nach sorgfältiger Risikoabwägung, CAVE: schwankende Medikamentenspiegel, unzureichende Datenlage)
  • Umstellung der antidepressiven Medikation (v. a., wenn Antidepressivum-Wirkung unzureichend ist).
  • pharmakologische Interventionen (die Literatur berichtet von Methylphenidat, Amantadin, Yohimbin, Ginkgo biloba oder Sildenafil).
  • psychoedukative und kognitiv verhaltenstherapeutische Verfahren haben zudem gute Wirksamkeit gezeigt. 

Laut einer kleinen Studie aus den USA verbesserten sich Libido- und Orgasmusstörungen unter der SSRI-Behandlung, wenn an mehreren Wochenenden eine Unterbrechung der Therapie mit Sertralin bzw. Paroxetin (drug-holiday) erfolgte.1,6

  • Bei mehr als der Hälfte der Patientinnen und Patienten führte die Unterbrechung der SSRI-Einnahme über eine Dauer von 48 h zur deutlichen Verbesserung der Libido und Orgasmusfähigkeit sowie der sexuellen Befriedigung.1.6

Sexuelle Dysfunktion durch Antidepressivum – Der Switch kann sich auszahlen

Allerdings sind ein drug-holiday oder eine Dosisreduktion nicht immer medizinisch vertretbar (CAVE: Absetzsymptome).1 Eine weitere Option kann u. a. die Umstellung auf ein anderes Antidepressivum sein. Auch wenn Therapieoptionen wie z. B. Buspiron, Mirtazapin, Methylphenidat oder Phosphodiesterase-5-Hemmer klinisch oder experimentell getestet wurden, gibt es bisher noch keine wirksame zugelassene Therapie gegen die „Post-SSRI Sexual Dysfunction“, kurz PSSD.1

Bei persistierenden Einschränkungen der sexuellen Funktion im Zusammenhang mit SSRI und SNRI kann dann z. B. auf Antidepressiva mit einem geringen Risiko für sexuelle Funktionsstörungen wie Moclobemid oder Agomelatin umgestellt werden.1,5

Für Patientinnen und Patienten mit einer leichten bis mittelschweren Depression kann auch hochdosierter Johanniskraut-Extrakt eine Option sein. Die Nationale VersorgungsLeitlinie „Unipolare Depression“ empfiehlt für den ersten Therapieversuch Johanniskraut-Extrakt als gleichwertige Behandlungsoption zu SSRI und anderen Antidepressiva.3

Die Behandlung mit dem Phytotherapeutikum wurde bislang nicht mit sexuellen Funktionsstörungen, Sedierung oder auch Gewichtszunahme in Zusammenhang gebracht.7,8

PSSD – Was steckt dahinter und wie erkennen?

Sexuelle Funktionsstörungen können nach dem Absetzen von SSRI weiter bestehen oder sogar erstmalig beim oder kurz nach dem Absetzen auftreten. Dies wird als post-SSRI sexuelle Funktionsstörung (PSSD) bezeichnet und geht häufig mit genitaler Taubheit, lustlosem oder schwachem Orgasmus, Libidoverlust und erektiler Dysfunktion einher. Die Inzidenz und Prävalenz von PSSD ist aus verschiedenen Gründen schwer zu erfassen.9,10 

Mitunter ist die Scham der Betroffenen groß, und sie behalten die Symptome für sich. Bei PSSD handelt es sich immer um eine Ausschlussdiagnose. Es gibt weder Biomarker noch spezifische Tests oder klare ICD-10 Diagnosekriterien für PSSD. Betroffene können oft nicht zuordnen, dass ihre sexuellen Störungen eine Nebenwirkung der Medikation sein könnten. Orientierung für die Diagnostik von PSSD gibt der Verein „PSSD Hilfe Deutschland e. V.“ und beruft sich dabei mitunter auf eine Publikation von Healy et al. 2021.11,12

Weitere Hilfestellung finden Sie unter der Verein „PSSD Hilfe Deutschland e. V.“

Quellen:

  1. Cohen SA & Scholz P. Eine Herausforderung für die behandelnden Ärzte Sexualstörungen in der 
    Behandlung depressiver Erkrankungen. Psychoneuro 2003; 30 (3): 164–168.
  2. Simm M. Antidepressiva: Nebenwirkungsprofil individuell beachten. Dtsch Arztebl International. 2009;106(9):1.
  3. Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Langfassung, Version 3.0, 2022, AWMF-Register-Nr. nvl-005. Stand 2022. AWMF-Reg.-Nr. nvl-005, unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/nvl-005l_S3_Unipolare-Depression_2023-07.pdf (abgerufen am 04.02.2025).
  4. Peleg CL et al. Post-SSRI Sexual Dysfunction (PSSD): Biological Plausibility, Symptoms, Diagnosis, and Presumed Risk Factors. Sex Med Rev 2022;10:91−98.
  5. Serretti A & Chiesa A. Treatment-Emergent Sexual Dysfunction Related to Antidepressants. A Meta-Analysis. J Clin Psychopharmacol 2009;29: 259Y266.
  6. Rothschild AJ. Selective serotonine reuptake inhibitors-induced sexual dysfunction: efficacy of a drug holiday. Am J Psychiatry1995; 152: 1514–1516
  7. Gastpar M et al. Comparative Efficacy and Safety of a Once-Daily Dosage of Hypericum Extract STW3-VI and Citalopram in Patients with Moderate Depression: A Double-Blind, Randomised, Multicentre, Placebo-Controlled Study. Pharmacopsychiatry 2006; 39: 66-75.
  8. Gastpar M et al. Hypericumextrakt STW3-VI im Vergleich zu Citalopram und Placebo bei Patienten mit mittelschwerer Depression. Psychopharmakotherapie 2007; 14: 65-69.
  9. Peleg LC et al. Post-SSRI Sexual Dysfunction (PSSD): Biological Plausibility, Symptoms, Diagnosis, and Presumed Risk Factors. Sex Med Rev 2022;10:91−98.
  10. PSSD Hilfe Deutschland e. V.; PSSD Hilfe Deutschland e. V. - Unser Verein
  11. Woher weiß ich, dass ich unter PSSD leide? PSSD Hilfe Deutschland e. V.; PSSD Hilfe Deutschland e. V. - Details zu PSSD
  12. Healy D. Diagnostic criteria for enduring sexual dysfunction after treatment with antidepressants, finasteride and isotretinoin. Int J Risk Saf Med. 2022 Feb 22;33(1):65–76. doi: 10.3233/JRS-210023.

Bildquelle: https://www.gettyimages.de/detail/foto/sad-woman-sitting-on-bed-with-partner-in-background-lizenzfreies-bild/1202463037?adppopup=true , Symbolbild mit Modell

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