Nach dem Beenden einer Antidepressiva-Therapie können Absetzsymptomen auftreten, die auf physiologischen Anpassungen an die Pharmakotherapie beruhen.1 Wie häufig diese sind und unter welchen Wirkstoffen geringere bzw. stärkere Symptome zu erwarten sind, zeigte eine kürzlich in „The Lancet Psychiatry“ veröffentlichte Metaanalyse.2,3
Metaanalyse zeigt unterschiedliche Wahrscheinlichkeit für Absetzsymptome
Eine in „The Lancet Psychiatry „veröffentlichte Metaanalyse von Forschenden aus dem Jahr 2024 liefert erstmals umfassende Daten zum Auftreten von Absetzsymptomen unter der Antidepressiva-Therapie und quantifiziert diese.2,3
Hierzu wurden in der Metaanalyse systemisch 44 RCTs und 35 Beobachtungsstudien mit insgesamt 21.002 Personen ausgewertet, die ein Antidepressivum (n = 16.532) oder ein Placebo (n = 4.470) einnahmen. Nach Beendigung der Therapie wurden die Teilnehmenden (72 % Frauen, 28 % Männer, Durchschnittsalter 45 Jahre) zur Häufigkeit von Absetzerscheinungen befragt.2,3
Die Metaanalyse zeigte überraschende Ergebnisse:2,3
- Nur jede 6. bis 7. Person (15 %) litt nach dem Beenden der Antidepressiva-Therapie unter Absetzsymptomen. Demnach konnte die Mehrheit der Patientinnen und Patienten ihre antidepressive Medikation ohne Auftreten von Absetzsymptome absetzen.
- Schwere Absetzsymptome beim Beenden der Antidepressiva-Therapie traten nur bei knapp 3 % der Patientinnen und Patienten zu Tage.
- Die Einnahme von Desvenlafaxin, Venlafaxin, Imipramin und Escitalopram war mit einer höheren Häufigkeit von Absetzsymptomen assoziiert. Unter Imipramin, Paroxetin und Desvenlafaxin oder Venlafaxin traten Absetzsymptome höheren Schweregrades auf.
- Interessanterweise zeigte auch nahezu jede 5. Person mit Placebo Absetzphänomene.
Die Autorinnen und Autoren schlussfolgern, dass Absetzerscheinungen auch auf eine negative Erwartungshaltung der Betroffenen zurückgeführt werden können und psychologisch beeinflussbar sein könnten.
Daher raten die Autorinnen und Autoren bei Beendigung der Antidepressiva-Behandlung,2,3
- immer eine gemeinsame Entscheidung mit dem oder der Betroffenen zu treffen,
- Betroffene über die Wahrscheinlichkeit von Absetzsymptomen zu informieren, um Verunsicherung und übermäßiger Beunruhigung entgegenzuwirken und
- die Patientinnen und Patienten beim Absetzen der Medikation eng zu begleiten.
Metaanalyse bestätigt bisherige Erkenntnisse
Die Metaanalyse bestätigt die Daten früherer Analysen zum Auftreten von Absetzsymptomen:4
• Neben den SSRI treten Absetzsymptome auch bei trizyklischen Antidepressiva mit erhöhtem Risiko auf.4
• Auch Antidepressiva mit kurzer Halbwertszeit, wie z. B. MAO-Hemmer Tranylcypromin und Moclobemid, haben ein hohes Risiko für die Entstehung von Absetzsymptomen stärkerer Ausprägung.4
Risiko für Absetzsymptome | Antidepressiva |
sehr hohes Risiko | Tranylcypromin, Phenelzin |
hohes Risiko | Paroxetin, trizyklische Antidepressiva, Venlafaxin (Desvenlafaxin) |
mittleres Risiko | Citalopram, Escitalopram, Sertralin, Duloxetin |
niedriges Risiko | Fluoxetin, Milnacipran |
kein Risiko | Agomelatin |
unklares Risiko | Mirtazapin, Bupropion |
Tabelle 1: Risiko für Absetzsymptome weiterer Antidepressiva, modifiziert nach Quelle.4,5
Für pflanzliche Antidepressiva (Johanniskraut-Extrakt) sind keine Absetzsymptome aus der Literatur bekannt, ebenso für Agomelatin.4,5
Leitlinie: Antidepressiva schrittweise reduzieren
Entsprechend den Empfehlungen der Nationalen VersorgungsLeitlinie zur Unipolaren Depression sollten Antidepressiva bei akuten depressiven Episoden bis zur Remission eingenommen werden, und ggf. im Rahmen einer Erhaltungstherapie weiter über eine Dauer von mindestens 6 bis 12 Monaten. Wird ein Absetzen des Antidepressivums erforderlich, sollte dies nicht abrupt geschehen.6
Wichtig: Absetzsymptome sind zumeist mild und bilden sich oft spontan zurück.6
Die S3-Leitlinie „Unipolare Depression“ empfiehlt beim Absetzen von Antidepressiva:6
- Antidepressiva schrittweise zu reduzieren (ausschleichen). In einigen Fällen werden hierfür längere Zeiträume benötigt.
- Solange die Absetzsymptome mild ausgeprägt sind, diese zu überwachen und die Symptome aktiv zu erfragen.
- Falls die Symptome schwer sind, kann das Wiederaufnehmen der ursprünglichen Antidepressiva-Therapie (oder eines mit längerer Halbwertszeit aus derselben Wirkstoffklasse) in wirksamer Dosierung erwogen werden. Anschließend sollte ein noch langsameres Absetzen unter Überwachung, wenn möglich mit kleineren Dosierungsschritten, erfolgen.
Absetzen des Antidepressivums – welche Symptome treten auf?
Schwindel, Übelkeit, Kopfschmerzen und Stimmungsschwankungen zählen zu den häufigsten Absetzsymptomen. Im Normalfall sind die Symptome reversibel und gehen nach 2-6 Wochen (je nach Halbwertszeit des Wirkstoffes) zurück.4,6
Der englische Begriff „FINISH“ ist eine Eselsbrücke, um Absetzsymptome schneller zu erkennen.4
FINISH - kurze Übersicht über mögliche Absetzsymptome:4
- Flulike symptoms (grippeähnliche Symptome)
- Insomnie (Schlafstörungen, intensive Träume/Albträume)
- Nausea (Übelkeit, Erbrechen)
- Imbalance (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel)
- Sensory disturbances (Stromschläge, Dysästhesien)
- Hyperarousal (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit)
Tabelle 2 listet weitere allgemeine und serotoninassoziierte Absetzsymptome auf, die bei Beenden einer Antidepressiva-Therapie auftreten können, modifiziert nach Quelle4.
Systemisch, kardial
| Schwindel*, Benommenheit*, Gleichgewichtsstörungen, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Schwäche, Dyspnoe, Tachykardie*, grippeähnliche Symptome* |
Sensibilität | Sensibilitätsstörungen, Dysästhesien, Juckreiz, Tinnitus, Geschmacksveränderungen, visuelle Veränderungen, Parästhesien*, Gefühl von Stromschlägen* |
Neuromuskulär | Tremor, Muskelverspannungen*, Myalgie*, Neuralgie*, Unruhe*, Ataxie |
Vasomotorisch | Temperaturregulationsstörung, Schwitzen*, Erröten*, Frösteln* |
Gastrointestinal | Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe*, Bauchschmerzen*, Anorexie |
Sexuell | Vorzeitige Ejakulation*, genitale Hypersensibilität* |
Schlaf | Insomnie, Alpträume, intensives Träumen, Hypersomnie |
Kognitiv | Verwirrtheit*, Desorientierung*, Amnesie*, Konzentrationsminderung |
Affektiv | Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Agitation, Anspannung, Panik, gedrückte Stimmung, Impulsivität, plötzliches Weinen, Wutausbrüche, Manie, Antriebssteigerung, Stimmungsschwankungen, Verstärkung suizidaler Gedanken, Derealisation, Depersonalisation |
Psychotisch | Visuelle und auditorische Halluzinationen |
Delir | (typisch nur für Tranylcypromin) |
*spezifisch serotoninassoziiert
fett gedruckt = häufig auftretende Symptome
Rebound-Phänomen oder Rückfall?
Zudem sind auch ein Rebound oder das Aufflammen der Grunderkrankung möglich:4,6
- Ein Rebound löst die Symptomatik der Grunderkrankung in stärkerem Maße aus als vor Beginn der Medikation.
- Ein Rezidiv zeichnet sich dagegen durch das Auftreten einer neuen Episode nach Remission (6 – 9 Monate) aus.
Quellen:
- PZ – Pharmazeutische Zeitung. Psychopharmaka: Absetzen, aber richtig; unter: www.pharmazeutische-zeitung.de/absetzen-aber-richtig/ (abgerufen am 17.04.2025)
- Henssler J, Schmidt Y, Schmidt U, Schwarzer G, Bschor T, Baethge C. Incidence of Antidepressant Discontinuation Symptoms - A Systematic Review and Meta-Analysis. Lancet Psychiatry 2024 Jun 05. doi: 10.1016/S2215-0366(24)00133-0
- Antidepressiva: Neue Daten zur Häufigkeit von Absetzsymptomen, Pressemeldung der Charité Berlin vom 06.06.2024, abgerufen am 24.04.25 unter https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/antidepressiva_neue_daten_zur_haeufigkeit_von_absetzsymptomen
- Antidepressant Withdrawal and Rebound Phenomena - PMC , Dtsch Arztebl Int. 2019 May 17;116(20):355–361 (abgerufen am 17.04.2025)
- Fachinformation Laif®900, Stand September 2020
- Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, Langfassung, Version 3.0, 2022, AWMF-Register-Nr. nvl-005. Abgerufen am 17.04.2025 unter Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, Version 3.2
Bildquelle: https://www.gettyimages.de/detail/foto/empty-pill-packaging-lizenzfreies-bild/2155148348
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